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09.08.2021

Was braucht es für starke Familien? Interview mit Britta Altenkamp.

AWO-Präsidiumsmitglied Britta Altenkamp beantwortet zur Themenwoche "Starke Familien" Fragen darüber was Familien, Kinder und Jugendliche nach der Pandemie brauchen.

Nach der Pandemie war schon vor der Pandemie – nun umso dringender.

Was brauchen Familien, Kinder und Jugendliche?

Familien, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene erleben die Auswirkungen der Pandemie und des damit verbundenen Lock-Downs unmittelbar und tiefgreifend. Eineinhalb Jahre Lockdown: Ein Zeitraum, der im Prozess des Aufwachsens eine viel höhere Bedeutung hat als bei Erwachsenen im Hinblick auf die Aneignung von Wissen und Welterfahrung, Selbstwirksamkeitserleben, soziales Lernens und Persönlichkeitsbildung. Kein oder nur sporadischer Kita-Besuch über lange Zeit, ausfallender Präsenzunterricht an Schulen -  anstatt dessen digitales Lernen am Computer. Freizeitaktivitäten in der Gemeinschaft mit anderen, Musik, Sport wurden in entscheidenden Jahren des Aufwachsens auf quasi Null reduziert. Studienanfänger*innen kommen in das dritte Semester und haben Kommiliton*innen und Lehrkräfte bisher nur auf dem Bildschirm gesehen.

Familien waren, abhängig von den Voraussetzungen, teilweise hohen und höchsten Belastungen ausgesetzt. Sorgeaufgaben für Kinder und möglicherweise zu pflegende Angehörige mussten mit eigener Berufstätigkeit unter einen Hut gebracht werden. Die Pandemie hat viele Eltern an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gebracht. Nochmal besonders belastet, das hat die Pandemie deutlich gezeigt, waren sozial benachteilige Familien, Familien, die wirtschaftlich auf zwei Einkommen angewiesen sind und Alleinerziehende.

Ein eindeutiges Fazit aus der Pandemie: sie hat die Familien und Kinder erheblich stärker getroffen, die vor Corona bereits mit geringen Ressourcen ausgestattet, in angespannten materiellen und sozialen Verhältnissen lebten. Daraus folgt ebenfalls, dass die jeweilige Lebenslage auch maßgeblich darüber mitentscheiden wird, wie Familien, Kinder und Jugendliche die Folgen der Pandemie werden bewältigen können.

Was benötigen die Familien, Kinder und Jugendlichen?

Das, was sie bereits vorher benötigten, nur das noch gezielter und intensiver. Dabei sind die Bedarfe so mannigfaltig wie die der individuellen Lebenslagen der Familien, Kinder und Jugendlichen. Allerdings wird es nicht mit einem „Aufholpaket nach Corona“, das von der Bundesregierung für 2021/2022 beschlossen worden ist, erledigt sein. Das ist ein Anfang, ein guter Anfang, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Das wichtigste, worauf wir unseren Fokus und unsere Anstrengungen richten müssen, sind starke Familien und außerfamiliäre verlässliche und leistungsfähige Unterstützungssysteme – vor und erst recht, nach der Pandemie.

Das hat erhebliche finanzielle Anstrengungen für Bund, Länder und Kommunen zur Konsequenz. Gleichzeitig ist es alternativlos! Uns als AWO treibt die große Sorge um, dass in den anstehenden Verteilungskämpfen gerade in diesen Bereichen gespart wird. Das wäre fatal! Denn vielmehr umgekehrt, muss jetzt investiert werden und zwar massiv, um die Zukunftschancen von Kindern und Jugendlichen nicht aufs Spiel zu setzen, denn das würde die gesamte Gesellschaft mittel- und langfristig mit erheblichen Folgekosten auszubaden haben. Investiert werden muss in die Leistungsfähigkeit von Familien und der öffentlichen Institutionen von Bildung, Betreuung und Erziehung.

Was bedeutet das im Hinblick auf die familiäre Leistungsfähigkeit?

Familien müssen mit Ressourcen ausgestattet werden, mit Geld, Zeit und Infrastruktur. Zunächst müssen sie in die Lage versetzt werden, in verlässlich armutsfesten Bedingungen zu leben. Die bestehenden kaum zu durchschauenden zersplitterten Familienleistungen sind nicht in der Lage, dieses zu leisten. Aus dem Grund kämpft die AWO mit einer wachsenden Zahl von Mitstreitern für die Einführung einer Kindergrundsicherung, die Familien dauerhaft und verlässlich aus Armutslebenslagen herausführen kann.

Die Vereinbarkeit von Beruf und Fürsorgeleistungen muss im Hinblick auf familiäre Bedarfe, sei es die Versorgung der Kinder oder die Pflege von Angehörigen, erheblich verbessert werden. Die Pandemie hat sowohl gezeigt, dass die meisten Arbeitgeber von einer flexiblen Arbeitsorganisation weit entfernt sind. Gleichzeitig ist im Verlauf der Pandemie auch deutlich geworden, wie effektiv die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit flexibleren Modellen gesteigert werden kann. Deutlich wurde aber im Lock-down auch, dass die Hauptlast familiärer Leistung nach wie vor häufig bei den Frauen lag.

Vieles ist aber hier in Bewegung gekommen, daran müssen wir anknüpfen, darauf aufbauen. Deshalb fordert die AWO einen „Familiengipfel“ zwischen Politik, Wirtschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen, um hier zukunftsfähige konsensfähige Wege zu entwickeln. 

Und für die gesellschaftliche Unterstützung und Förderung der Familien, Kinder und Jugendlichen?

In einer differenzierten und komplexen arbeitsteiligen Gesellschaft benötigen Familien in ihren Erziehungsaufgaben, für die Vereinbarkeit von Versorgungsaufgaben und Beruf sowie die Kinder für ein Aufwachsen im Wohlergehen eine verlässliche Unterstützung und Begleitung durch leistungsfähige Institutionen. Zuvorderst sind das die Schule und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.

Das beginnt bei einer qualitativ hochwertige Kindertagesbetreuung, erfordert gut ausgestattete Schulen incl. eines verlässlichen Ganztags aber auch flächendeckender und bedarfsgerechter Angebote der Familienberatung und –bildung wie der Jugendarbeit.

Ausreichende und gut ausgebildete Fachkräfte sind Voraussetzung für eine gute Qualität der Leistungen und Angebote. Wir verzeichnen allerdings einen eklatanten Fachkräftemangel. Um die Leistungsfähigkeit der Einrichtungen und Diensten auf hohem Niveau zu verbessern und zukünftig zu sichern, werden wir nicht umhin kommen, die Attraktivität der sozialen Berufe zu steigern, was u.a. mit einer besseren Bezahlung einhergehen muss.

Ein Qualitätsmerkmal der Angebote besteht aber auch darin und dadurch müssen sie sich zukünftig verbindlich auszeichnen, dass sie allen Nutzer*innen zugänglich sind, sprich, inklusiv aufgestellt sind. Gleichzeitig müssen sie mitgestalten und deutlich stärker als bisher mitbestimmen können. Hier muss sich Schule verändern, die Träger der Kinder- und Jugendhilfe sind hier ebenfalls gefordert. Das jetzt verabschiedete Kinder- und Jugendhilfestärkungsgesetz hat dieses Jahr entscheidende Voraussetzungen aber auch Anforderungen geschaffen, beides umsetzen zu  müssen. Eine wichtige Aufgabe, der wir uns als Träger von Einrichtungen und Diensten in den nächsten Jahren stellen.

Dazu gehört auch, da kommen wir spätestens nach der Pandemie nicht mehr dran vorbei, für eine gute digitale Ausstattung zu sorgen sowie das know-how der Fachkräfte ständig an die Entwicklungen anzupassen. Auch hier fehlt es vieler Orts noch an den Voraussetzungen, der Entwicklungsbedarf ist enorm.

Zweifellos muss der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor körperlicher, sexueller und digitaler Gewalt dringend weiter verbessert werden. Das ist für uns als AWO eine Herzensaufgabe. Wirkungsvolle Maßnahmen sind in den letzten Jahren auf den Weg gebracht worden, auch in unserem Verband. Daran müssen wir anknüpfen, Prävention und Interventionsmöglichkeiten müssen erweitert und weiter gestärkt werden. Das erfordert die Anstrengung aller Akteure, denen eine Relevanz im Prozess des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen zukommt. Institutionen müssen sich verpflichten, Schutzstandards einzuhalten, Fachkräfte müssen qualifiziert werden und Beratungsangebote deutlich erweitert werden. Ein Baustein, für den sich die AWO seit langer Zeit einsetzt, ist eine wirkungsvolle Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz ein. Das Recht von Kindern auf ein Aufwachsen im Wohlergehen muss als zentrales Gesellschaftsziel Eingang in die Verfassung finden.

Das kostet alles viel Geld? Wie sollen wir das schaffen?

Die wirtschaftlichen Hilfen in dreistelligen Milliardensummen hat die Leistungsfähigkeit unseres Staates deutlich gemacht. Wir dürfen jetzt nicht so kurzsichtig handeln, indem wir auf Kosten der nachwachsenden Generation meinen, den Staatshaushalt sanieren zu könnten. „Alle müssen ihren Beitrag dafür leisten“, so klingt es schon in den Ohren. Das darf nicht für Kinder und Jugendliche und ihrer Familien gelten. Vielmehr sind wir es als Gesellschaft ohnehin - und durch die Auswirkungen der Pandemie erst recht – der nachwachsenden Generation schuldig, in die Leistungsfähigkeit von Familien und in das Gesamtsystem von Bildung, Betreuung und Erziehung erheblich zu investieren. Jeder hier investierte Euro wird sich rentieren, im Hinblick auf eine gerechte Verteilung von Bildungs- und Zukunftschancen der Kinder und Jugendlichen, auf die Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit aber auch in Bezug auf die Festigung unseres demokratischen Gemeinwesens. 

Was braucht es für starke Familien nach der Pandemie? Präsidiumsmitglied Britta Altenkamp im Interview.

Weiteres zur Bundestagswahlkampagne

Die AWO begleitet die 12 Wochen bis zur Wahl unter dem Motto „Deutschland, Du kannst das!“ mit sozial- und gesellschaftspolitischen Forderungen an die kommende Bundesregierung. In dieser Woche startete der Themenschwerpunkt „Starke Familien“. Mehr dazu unter: https://awo.org/bundestagswahl-2021

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